Plattenhaus

Welt am Sonntag, 11.12.02

Die Architektur der ungeliebten Ostberliner Neubaugürtel zwischen Abriss und Kult

von Michael Pilz

Die Familie zog aus ihrem Haus mit Garten in den eindrucksvollen 30 Meter hohen Neubau QP71. Platte, quer, entworfen 1971 für das Wohnungsbauprogramm der DDR. Drei helle Räume gab es, die noch lange nach Zement und Kleister rochen. In der Küche waren Kunststoffschränke installiert. Da freute sich der Vater, dass er keine Kohlenruß-Verpuffungen im Heizungskeller mehr befürchten musste. Mutter war die Gartenpflege leid und planzte am Balkon Geranien. Und das Kind erlebte auf der Großbaustelle vor der Haustür Abenteuer. Es schloss Bagger kurz, bewies beim Pinkeln in die Dunkelheit der Umspann-Häuschen Mut oder formte Kunstwerke aus frischem Fensterkitt. Wobei die Lösungsmitteldämpfe selbst die ärgsten Rüpel freundlich stimmten, diese gab es dort schon immer in besonders reicher Zahl.

Noch in den frühen 70-er Jahren waren viele froh, im Plattenbau zu leben. Das ließ in den 80-er Jahren deutlich nach. Am Schluss verlor sich das Vergnügen in der Regel völlig. Die Familie zog noch vor dem Mauerfall in einen Bungalow mit Garten. Gerne überließ sie die bald arg verkommenen Siedlungen Nostalgikern oder sozial Gefährdeten. Die Straßen übernahmen kahlköpfige junge Männer. Und die Rathäuser der Plattenbau-Bezirke übernahm die PDS in ihrem neuen Stammland.

Wer in Buchläden nun auf die Bastelbögen von Cord Woywodt stößt und selbst den Ansehensverlust des Plattenbaus erlitten hat, ist reichlich irritiert. Der Architekt aus Celle gibt die „Faltplatte“ heraus. 400fach verkleinert, lassen sich die Typen WBS 70 und GT 18/21 ausschneiden, zusammenleimen und daheim in die Vitrine stellen. Das verlangt naturgemäß nicht allzu viel Geschick. Es widerspricht also dem Ehrgeiz jedes Bastlers, grau bedruckte Quader herzustellen. Das, sagt Woywodt, sei der Witz der Sache. Das Genormte, Nüchterne und Schlichte habe ja der Platte ihren schlechten Ruf beschert.

Was Platten-Veteranen aber eigentlich verwirrt, ist dieser Schick des Schauers, ein gewisser Kult. Der äußert sich verstärkt im Bastelbogen „Faltplatte“. Oder im Kartenspiel „Plattenbauten – Berliner Betonerzeugnisse“. Oder in zahlreichen Berliner Platten (!), in Elektro-Pop-CDs, die auf den Hüllen die kühle Langeweile gern durch Betonfassaden unterstreichen. Es gibt Kinofilme wie „alaska.de“, in dem Marzahn als hoffnungsfernes Jugendghetto abgebildet wird. Oder wie „Halbe Treppe“, wo die Plattenbauten in Frankfurt an der Oder von der Wärme proletarischer Geselligkeit vibrieren.

Das hat alles mit dem Sog Berlins zu tun. Und mit dem Eifer, diese Metropole von den Herkunftsorten jedes Neuberliners abzuheben. Denn in Wahrheit stellt die Stadt sich so beschaulich dar wie München-Schwabing (Prenzlauer Berg), Konstanz (Köpenick) oder Stuttgart (Spandau). Deshalb wird sie unwirtlicher, rauher, ostiger und den Zurückgebliebenen schockierender gezeigt, als sie es wirklich ist. Durch kyrillische Schriftzeichen, durch Bilder unsanierter Plattenbauten: Weite, Anonymität, schneidende Winde, desillusionierte Eingeborene und Kaufhallen voll Büchsenbier und Hackepeter.

Erst vor kurzem zogen 50 Künstler wieder aus dem Hellersdorfer Elfgeschosser aus, den sie drei Monate bewohnen durften. „Dostoprimeltschatelnosti“ (Russisch für Sehenswürdigkeiten) hieß das Kunstprojekt. Die Künstler dübelten an der Fassade das Schild „Heimat“ an. Den elften Stock beleuchteten sie rot und nannten ihn ironisch „Love Hotel“. Ob ihnen Heiner Müller als bewährter Plattenbaubewohner und sein Bonmot „Fickzellen mit Fernwärmeanschluss“ geläufig waren, konnte nicht ermittelt werden.

Ja, der Mensch hinter der Platte pflegt seit jeher eine tiefe Hassliebe zu seiner Unterkunft. Im übrigen: Ein echter Plattenmieter sagt nicht „Platte“, er sagt „Neubauwohnung“. Davon steht mehr als ein Zehntel bereits leer im Ostberliner Siedlungsgürtel. Und in Kürze wird der erste GT 18/21 in Marzahn zurückgebaut, prosaisch: abgerissen. Wenn sich die Berliner Szene nicht beeilt auf ihrer Flucht vor Trittbrettfahrern und Touristen, auf dem Weg von Mitte über Friedrichshain und Lichtenberg nach Hellersdorf, Marzahn und Kaulsdorf-Nord, wird einiges von ihren neuen Lieblingsoberflächen weggesprengt und abgetragen.

Beides, Kult und Rückbauwut, verdanken sich dem schlechten Ruf der Platte. Der entstand mit der tatsächlichen Tristesse in der DDR. Die Neubausiedlungen wurden zum Sinnbild ihres Niedergangs. Nicht zufällig waren Familien froh und voller Hoffnung, als sie in den frühen 70-ern die Wohnungen bezogen: Ulbricht lag im Sterben, Honecker galt als Reformer. Lug und Trug, Ernüchterung und Flucht ins Grüne oder Trost im Altbau wurden in die zweite Hälfte des Jahrzehnts verschoben. Dies ist keine Nostalgie: Das Volk trug trotz der angeratenen Skepsis Schlaghosen mit Blumen, und die Sonne schien über das Wohnungsbauprogramm. Die Kinder spielten in den zweckentfremdeten und farbenfroh lackierten Abwassersegmenten. Und Frank Schöbel, Schlagerstern der DDR und Plattenbaubewohner, sang mit Neubaukindern „Komm wir malen eine Sonne auf den grauen Pflasterstein“. Es wohnten Künstler, Bonzen, Stasi-Offiziere, Arbeiter, und Intellektuelle oft im selben Block. Verantwortliche Architekten sprachen vom Typ Gartenstadt. Im Unterschied zu Arbeiterschließfächern und Trabantenstädten in erklärtermaßen üblen Großstädten des Westens.

Diese nicht ganz falsche aber immer heftig übertriebene Idylle war die Ursache des ersten Argwohns. Auch für den verdienten Exodus der 80-er und 90-er Jahre aus der Platte. Schließlich für die Platte, wie sie nun gesehen wird: Sie ist urbanes Sorgenkind, vernachlässigt und abrissreif; sie gilt als Filmkulisse, schriller Pop-Mythos und Kultobjekt. Zum Staunen und Entsetzen, Spielen oder Basteln.

Cord Woywodt, Andreas Seidel: Faltplatte WBS 70/11, 3 Bögen 4,90 Euro; Faltplatte WHH GT 18/21, 2 Bögen, 3,90 Euro.